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Briefe

Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Der Brief ist eine Art Selbstgespräch. - Johann Wolfgang von Goethe

Gestern habe ich einen Brief von meiner ehemaligen Politiklehrerin bekommen. In diesem hat sie sich bei mir unter anderem für meine Abschlussrede bei der Zeugnisvergabe bedankt und etwas in Erinnerungen an den Unterricht und das Wirken an der Schule geschwelgt. In Antwort darauf habe ich einen Antwortbrief verfasst. Dabei sind mir einige Dinge aufgefallen.


I. Wann hat man zuletzt einen Brief geschrieben?

In meinem Fall dürfte dies in die Grundschulzeit fallen. Damals gab es einen Briefkasten im Klassenraum, in den man anonym Briefe an seine Mitschüler werfen konnte. Es kamen dabei schöne, liebe und lustige Nachrichten heraus. Ich denke, dass so ein Klassenprojekt etwas positives mit sich bringt. (Natürlich nur, wenn es zwanglos ist.) Früher jedoch war es normale Praxis, in regelmäßigen Abständen Briefe zu verfassen; nicht zuletzt sind fehlende Alternativen für diese Zustände verantwortlich.


II. Die Intimität der Handschrift

Beim Lesen eines handgeschriebenen Briefes gibt es in meiner Wahrnehmung ein sehr persönliches Gefühl. Jemand hat sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, Stift und Papier zur Hand zu nehmen und einen (hoffentlich) wohlüberlegten Text formuliert. Dabei fallen zwischen den Handschriften viele Dinge auf. Ich denke, dass sich viele Eigenschaften einer Person in deren Schrift manifestieren können. So haben sehr strukturierte Menschen häufiger eine ordentliche Schrift, während bei emotional gesteuerten Menschen die Schriftbilder und Strichstärke stark variieren können. Dies bildet natürlich nicht die Regel, ist jedoch mit einer gewissen Logik verbunden. Nicht zuletzt kann mit der Schrift auch ein kleines Kunstwerk entstehen. Einen Brief per Hand zu verfassen ist aufwendiger, als am PC ein Dokument anzulegen und drauf los zu schreiben. Ein Brief ist etwas geradezu organisches.


III. Schätze der Vergangenheit

Die Schrift zählt zu den ältesten Errungenschaften der Menschheit. Schon immer hat es sie in verschiedensten Formen gegeben. Darunter Bilder, Runen, Alphabete, Abjads, Abugidas, Logografien, et cetera. Die größten Literaturschätze der Erde wurden als Manuskripte erstmals per Hand verfasst. Vor der Erfindung des Buchdruckes konnten die wenigsten Menschen lesen und schreiben, gerade in Europa war es Mönchen und Adligen vorbehalten. Bücher mussten aufwendig per Hand abgeschrieben werden, häufig kamen filigrane Buchmalereien dazu, wie beispielsweise im Codex Manesse. Heute sind diese Künste für fast alle Menschen zugänglich. Briefe und Schriftstücke aus den vergangenen Jahrtausenden, Jahrhunderten und Jahrzehnten sind erhalten geblieben und für uns zugänglich.


VI. Moderne und Verluste

Mit der Einführung der Schreibmaschine, später dem Computer und dem Smartphone geriet das Schreiben von Hand immer mehr in den Hintergrund. Diese Medien revolutionierten das Schreiben. Es geht schneller, effizienter und sicherer. Man hat in der Theorie sogar Zugriff auf den größten Wortschatz, dennoch wird dieser nicht (zureichend) genutzt; denn Menschen sind bequem. In sozialen Netzwerken gibt es häufig eine subjektive, hitzige Debattenkultur. Unter fast allen Beiträgen zu aktuellen Ereignissen liefern sich Menschen unter den Beiträgen teils völlig absurde Kommentarschlachten. Nicht selten gehen dabei jedoch Objektivität, Überlegtheit und Geistreichtum verloren. Viele Menschen agieren über das maschinelle Schreiben geradezu perfide. Die Gründe dafür liegen aber nicht allein darin, dass kaum noch Briefe geschrieben werden. Die Online-Welt gibt schlicht genug Platz für Dinge, die wichtiger erscheinen, als sie sind. Unter falschem Namen kann, in der Theorie, jeder online publizieren und beeinflussen. Oft sind solche Beiträge nicht durch Evidenz gestützt. Dazu kommt, dass sie sehr subjektiv sind und wenig zwischen Meinung und empirischen Tatsachen unterschieden wird. Eine recht gefährliche Entwicklung.


In einem Brief hingegen ist man eher gezwungen, sich auf das wichtigste zu präzisieren. Der begrenzte Platz ist dabei ebenso eine zu berücksichtigende Eigenschaft. Auch kann nicht einfach so die Löschtaste drücken - Gewissenhaftigkeit ist gefordert. Ein abgeschickter Brief ist darüber hinaus mit einer Endgültigkeit verbunden und kann nicht einfach so zurückgenommen werden. Das Warten auf einen Brief kann auch eine Aufregung oder freudige Erwartung bieten. In diesem Sinne ist Briefverkehr ein nahezu ganzheitliches Training für Schrift, Gewissenhaftigkeit und Geduld. Ich denke, dass das ein in gewisser Weise ästhetisches Konzept ist.


Mit diesem Beitrag soll nicht unbedingt der Appell einhergehen, dass man nun jede Woche ‘zig Briefe schreibt. Dennoch würde es sich lohnen, das eine oder andere Mal über seinen Gewohnheitsrahmen hinaus zu steigen und etwas zu probieren. Ich habe dazu auf meinem Instagram-Account eine Umfrage gestartet, wer sich von mir einen Brief wünscht. An die, die mit “ich” geantwortet haben, werden in den nächsten Wochen persönliche Briefe von mir verschickt. Vielleicht ist dabei ja auch die eine oder andere Antwort für mich dabei. Es bleibt spannend.





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